Linien und Boten
Neuland in Stereo
(…) Dieter Dorn, in München ja noch nicht ganz unbekannt, denkt in seinen jüngst erschienen Erinnerungen über das Wesen des Schauspielerischen nach, das er als ein Vordringen in Vergessenes, Verdrängtes begreift. Dorn schreibt (ich zitiere): „Schauspieler tun etwas, wozu der ‚normale‘ Mensch nicht mehr in der Lage ist – nämlich durch das Spiel vorzudringen in eine andere Welt, in das Unbewusste, in etwas, das über die eigene Existenz hinausreicht, zurück in die Schattenhallen der Evolution (...)“. Diese Formulierung ist in mir nachgeklungen – Schattenhallen der Evolution. Schattenhallen. Schattenhallen? Nach den Siècles de Lumière, dem Licht der Aufklärung? Schattenhallen?

Ich möchte Ihnen einige wenige Gedanken zum Werk von Uta Reinhardt nahelegen aus dieser Optik der künstlerischen Aktion – früher hätte man gesagt: als einer Avantgarde. Der Ausdruck ist „démodé“, aber richtig scheint weiterhin, daß das Werk immer schon weiter vorgedrungen ist als der Mensch, die Malerin, so wie die Rolle sich im Akteur tiefer eingräbt als im Menschen, im Jedermann. Es ist das ja doch eine merkwürdige Sache, wenn Sie die Bildwerke der Uta Reinhardt auch nur flüchtig betrachten. Reizen sie nicht, zu polarisieren? Ist das nicht ignorant, eigensinnig, ja rückwärtsgewandt, wenn man so an der Malerei festhält, selbst übrigens in der Zeichnung? Oder gilt das Gegenteil? Ist dieses Werk ahnungsvoll, mit allen Sinnen offen, und sehr zukünftig, weil es die Malerei in unerhörter, in selten gesehener Weise als Instrument der Erfahrung führt, wie einen Degen? Was sind das für Malereien?
- Flächig stilisierte Figuren, oft in Arrangements, wie kristallisiert
- Großzügig kolorierte Flächen gegen jäh hervorbrechende Farben
- Scharfe Schnitte zwischen Räumen und Raumtrennungen
- Raumhüllen, die nur den Ausschnitt eines Interieurs zeigen und auf denen doch das ganze Universum zu lasten scheint, wie die Wassersäule des Ozeans auf einer Taucherglocke.
- Andererseits dann aber auch das zarteste Verwischen, ein vielfaches Überlagern, Lasieren mit dünnen Farb- und Weißaufträgen, Arbeiten in Schichten
- Hier wird verdeutlicht, markiert, schraffiert - dort werden Spuren gelöscht, Schlieren vertilgen die Linie, verlaufende Farbe erhält die Dignität des sorgsam geplanten Eingriffs.

Mit der Farbe malt sie Tiere, mit dem Spachtel modelliert sie in Blöcken, Fugen, Streifen, einen Wald. Ein Allerweltssweatshirt gibt die Kleidung für eine Figur. Nach eigener Aussage und mancher Datierung zufolge arbeitet Uta Reinhardt an gewissen Bildern, solange sie im Atelier verbleiben, 2, 5, ja manchmal 10 Jahre: solche Bilder tragen dann mannigfache Spuren eines künstlerischen Lebenspfads. Die malerische Entwicklung ist in den Farbraum hineingewoben, der Untergrund bildet oftmals das Unergründliche, Ungegründete, Grundlose, die angelehnte Türe in jene Gefilde, die Dieter Dorn die "Schattenhallen der Evolution" nennt. Aber was hat es damit auf sich? Nun, Uta Reinhardt gibt uns mit dem programmatischen Untertitel zur heutigen Ausstellung, Into the Wild, vielleicht einen Fingerzeig. Into the Wild übersetze ich uns: Die Malerei von Uta Reinhardt bietet uns zumindest an: eine Szenografie der Auswilderung. Sie nimmt uns - Domestizierte - bei den Stielaugen und führt uns ohne Pathos, ohne Appell, aber auch ohne Antworten aus dem Gehege. Unser Gehege ist die Komfortzone, dort und da, wo wir unsere große und kleine Welt, sortiert, geordnet, begriffen haben. Aber Obacht: die Auswilderung ist keine VERwilderung. Was verwildert, verkommt, sagt unser Sprachempfinden. Reinhardt will uns nicht verkommen lassen – zugleich will sie uns aber auch nicht entkommen lassen.

(…) Reinhardt inszeniert sparsam mit ihren Requisiten, sie versieht die Szenarien ihrer Bilder mit wenigen, vertrauten Dingen des täglichen Umgangs. Im Ensemble wirken sie hingegen vielfach um ein weniges verrückt aus den gewohnten Lagen und Zusammenhängen, traumhaft nah und zugleich entrückt, Bewegung im Stillstand. Stillestehen brauchen auch diese Bilder. Das Auge muss sich auf eine ganz andere Helligkeit einstellen, auf andere Zeitverhältnisse des Betrachtens. Reinhardts Malerei erschließt sich nicht wie die Brandung der See mit einem flüchtigen Blick. Sie faßt vielmehr, wie alpine Reliefs die Flora und Fauna untergegangener Meeresarme und mit ihnen ganze evolutionäre Zyklen, ebenso fasst diese Malerei mit einer Szenografie der Auswilderung unsere humane Ausstattung, wie sie sich in Jahrtausenden sedimentiert hat und in jeder Zeit sich wieder aktualisiert. Diese Bilder sind ein Wegweiser nicht zu Zielen, sondern zu Wegen und Weggabelungen, voller wundersamer Realien, die in einem Exerzitium des geduldigen Sehens entdeckt werden wollen. Sie sind Raum, Quelle, Bühne - Schattenhallen - jener Existenzbedingungen, mit denen wir Menschen uns auseinandersetzen: Die Namenlosigkeit und die Würde, die Reinhardt schon seit mehreren Jahren in einer Serie von Menschen- und Tierportraits reflektiert. Die Furcht und das Warten, die sich in Reflexen des Unheimlichen und Beklemmenden widerspiegeln. Unrast und Geduld, die nicht in inhaltlichen Szenen oder Erzählungen, sondern im Wechselspiel von Betrachtung und Erwartung, Entzifferung und Deutungsgebung ihren Sinngehalt suchen. Das Sterben und das Überdauern, im Spannungsfeld zwischen Tat und Erleiden, Trauer und Gegenwehr, zwischen der ohnmächtigen Kreatur und der erdumspannenden Zivilisation. Einsamkeit, Wohlwollen und Liebe, welche uns Reinhardts Figuren in Momenten der Begegnung, der Trennung, des Beieinander und des Auseinander vor Augen stellen.

Auszüge der Rede von Peter Kohlhaas anläßlich der Ausstellung Into the Wild 2013

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